Aus einem Zeitungsartikel der MZ (von Luise Mosig, Tollwitz) erfuhren wir vom 101. Geburtstag von Gerda Sachs (geb. 08.07.1924). Sie ist die Enkelin von David Sachs, Begründer des bis 1945 drittgrößten Saatzuchtunternehmens in Quedlinburg, und Augenzeugin der Reichskristallnacht in Quedlinburg.
Aus großem Interesse nahmen wir Kontakt zu ihr auf und es ergab sich, dass sie mit einem Besuch durch uns einverstanden war. So fuhren zwei Mitglieder der IG Saatguttradition (Steffi und Brigitte) am 1. Oktober nach Tollwitz, wo Frau Sachs seit den 1950er Jahren lebt und dort über 30 Jahre als Pastorin wirkte.
Wir waren sehr gespannt, wie es ihr geht, wie sie dort jetzt lebt und ob wir auf unsere Fragen auch Antworten erhalten. Der Empfang war herzlich und unter Bildern von ihrem Großvater, dem Vater, der Familie und vom Firmengelände hat sie bei Kaffee, Tee und Kuchen viel aus ihrer Quedlinburger Zeit erzählt.
Der Großvater David Sachs stammte aus Gernrode. Er, so wie auch seine Söhne, besuchte das humanistische Gymnasium in Quedlinburg. Daher, so erzählte Frau Sachs, konnten sie gut Latein und Griechisch, aber keine modernen Fremdsprachen. Bei der Samenzüchterei Grasshoff in Quedlinburg erhielt David Sachs sowohl eine kaufmännische als auch eine gärtnerische bzw. samenzüchterische Ausbildung. Ende 1878 kaufte er die Gärtnerei von August Gebhardt in der Kleersstraße und begründete die Samenzuchtfirma David Sachs, die er in kürzester Zeit zum drittgrößten Saatzuchtbetrieb Quedlinburg entwickelte, betonte Frau Sachs. David Sachs war ab1882 Vorsteher und von 1885 bis 1888 im Vorstand der jüdischen Gemeinde. Darüber hinaus war er von 1903 bis zu seinem Tod 1917 Vorsteher eines Bezirks der Armenpflege in Quedlinburg. Sein ältester Sohn Hugo arbeitete nach seiner Gärtnerlehre ab 1875 in der Firma mit und leitete diese nach dem Ausscheiden des Vaters ab Juli 1900. Der langjährige Freund von Hugo, Rudolf Schreiber, der gemeinsam mit ihm den Beruf des Gärtners erlernte, konnte durch eine Mitgift seiner Ehegattin Mathilde, geb. Hörnicke (in der Familie hieß es, sie war sein Portemonnaie, erzählte uns Frau Sachs) Anteile der Firma erwerben. Mit dem Geld kauften sie die Zuckerfabrik im Badeborner Weg und ein Areal mit Gleisanschluss. Zusammen schufen sie unter klugem kaufmännischem Handeln und züchterischem Fleiß ein Unternehmen mit Weltruf. Mit Stolz erwähnte Frau Sachs, dass sie die erste fadenlose Buschbohne gezüchtet haben, die 1914 auf den Markt kam und ein riesiger Fortschritt für die Konservenindustrie war. Die Sorte Saxa o. F. gibt es heute noch. Im Jahr 1917 erlitt die Firma durch den frühen Tod des Mitinhabers und Samenzüchters Hugo Sachs, dem Onkel von Gerda Sachs, einen schweren Verlust.
Ihr Vater Hans Sachs war Landgerichtsrat a. D. in Torgau. Aus dem Krieg zurückgekehrt, schied er aus dem Staatsdienst aus, verzichtete auf seine Pension und stieg nach dem Tod seines Bruders, dem Samenzüchter Hugo Sachs, ab 1918 mit 49 Jahren in die Familienfirma ein. Er war nicht nur wie bisher juristisch beratend tätig, sondern erlernte nun auch die Arbeiten eines Samenzüchters. Hans Sachs und sein zweite Frau Elsbeth hatten eine Tochter Gerda und zwei Söhne, Hugo und Ullrich. Die Familie wohnte in der Villa in der Kleersstraße Nr. 47. Sie erzählte, dass man vom Flurfenster die Sportler in der Turnhalle, die auch mal Reithalle war, sehen konnte. Gegenüber am Stadtgraben entlang der Stadtmauer hatte die Familie einen Obstgarten, aus dem sie unter anderem Mirabellen und Renekloden erntete und einkochte. Hinter der Villa gehörte Hans Sachs ein Stück Land privat und die Familie Kettenbeil hatte dort Land von der Familie Sachs gepachtet. An die Villa wurde noch ein Gebäudeteil mit einem großen Empfangsaal angebaut. Frau Sachs erzählte, dass sie keine schöne Kindheit hatten, da die Mutter viel mit Gesellschaftsempfängen beschäftigt war. So erinnerte sie sich mit einem Lächeln an einen Geschäftsbesuch, bei dem der Büroleiter Herr Köhn und ein Herr Schumann (der hatte mit Wilhelm Pieck zusammen gedient und meinte das war ein guter Kamerad) dabei waren und eine Besichtigung der Karnickelkäfige stattfand. Ihr Vater hatte selektierte Zuckerrübenpflanzen für die Einzelpflanzennachkommenschaftsprüfung auf den Käfigen abgelegt. Mit Entsetzen sah der Vater, dass Herr Schumann die Rüben an die Kaninchen (welche Namen hatten wie dicke Mathilde oder Zicke Doris) verfütterte. Zu dem Vorwurf Zuchtmaterial vernichtet zu haben, sagte er: „Ach den Kaninchen haben diese trotzdem geschmeckt“.
Sie sprach auch über eine weitere Begebenheit aus dem Jahr 1933, als Adolf Hitler im Januar zum Reichskanzler gewählt wurde. Besuchszeit war um 11 Uhr, ihre Mutter hatte Geschäftsbesuch, ihre Tante Henni (Henriette) aus Berlin war ebenfalls zu Besuch und begleitete die Gesellschaft mit albernen Damen die Treppe hinunter. Als sie an der Hoftür waren, hörte Gerda, dass ihre Tante vor der Zukunft mahnte, sie war eine kluge Frau. (Sie wurde 1943 in Theresienstadt ermordet). Ihr Vater, der Jurist Hans Sachs, meinte: „Es gibt doch noch ein Recht“. Er glaubte fest an die Assimilierung.
Die Nürnberger Gesetze 1935 verboten deutschen Bürgern den Umgang mit Bürgern jüdischer Abstammung. Frau Sachs berichtete, dass ihre Familie noch begünstigt war, da sie eine privilegierte Mischehe mit Kindern unter 18 Jahren waren. So durften sie Angestellte über 45 Jahre behalten. Ihre Großmutter aus Barth in Vorpommern musste dort ihr Haus wegen dem jüdischen Schwiegersohn verkaufen.
1937, ein Jahr vor den Arisierungsgesetzen, bat Hans Sachs den Mitinhaber der Firma Rudolf Schreiber um einen neuen Gesellschaftsvertrag. Sie gründeten eine Kommanditgesellschaft unter dem Namen „Rudolf Schreiber & Söhne“. Hans Sachs und Henni Jacob, geb. Sachs, überschrieben ihre Geschäftsanteile an seine Ehefrau Elsbeth Sachs und Rudolf Schreiber, weitere Kommanditisten waren die Söhne des Seniorchefs Dr. Fritz Schreiber und der Gärtner und Landwirt Johannes Schreiber. Elsbeth Sachs musste 1942 auf Druck der Nazis auch ihre Geschäftsanteile an die neue Firma abgeben.
Zur Reichskristallnacht, die am 09. November 1938 in Berlin und am 10. November dann auch in Quedlinburg stattfand, erzählte uns Frau Sachs, dass ihr Chauffeur Emil zwar bei der SA aber gegen den Pogrom war. Auf Befehl der NS-Kommandantur wurde am 10. November die Villa der Familie Sachs überfallen. Gerda war auf dem Gymnasium und zu ihr sagte man, sie solle nicht nach Hause gehen, Sie ist aber doch gegangen und hat von der gegenüberliegenden Straßenseite gesehen, wie die Fenster eingeschlagen wurden. Als sie zu Tisch saßen, hatte die Familie gehofft, noch zu Abend essen zu können. Jedoch hatte jemand die Tür aufgelassen und da stürmten die SA-Männer herein und warfen den Tisch um. Die Bank, auf der das Geschirr zerbrach, hat sie heute noch in Tollwitz. Die stämmige Hausangestellte Klärchen hatte sich vor die Treppe ins Obergeschoss gestellt an der ein Kudu-Geweih hing, dass ihr Bruder aus Afrika mitgebracht hatte und sagte, dort oben wohnt niemand von der Familie. Sie hielt mit grimmigem Gesicht die SA-Männer am 10. November zurück.
Hans Sachs wurde abgeholt. Man sah ihn noch am Marktplatz, wo er in einen Transporter steigen musste und ins KZ Buchenwald als „Novemberjude“ gebracht wurde. Die Mutter und die Kinder kamen erst ein paar Tage bei Rudolf Schreiber unter. Danach fuhren sie nach Berlin zu Tante Henni in die Württembergische Straße. Dort waren sie nicht lange. Die Mutter wollte zurück nach Quedlinburg. Dann rief der Vater aus Magdeburg an, dass er abgeholt werden kann. Mit einem Firmenfahrzeug von Schreiber konnten sie ihn nach Hause holen. Nach den zwölf Tagen im KZ hatte der Vater 12 Pfund abgenommen, hatte Wasser in den Beinen, ein verschorftes Gesicht, Wunden auf dem Kopf und vereiterte Füße. Die Entlassung war mit der Auflage verbunden, dass er das Land verlässt. 10 Reichsmark hat er als Mitnahmekapital gestattet bekommen. Damit konnte eine Auswanderung nicht gelingen, da zum Beispiel die USA hohe Bürgschaften verlangten.
Im Januar 1939 wurde Hans Sachs wieder verhafte und für zwei Wochen im Keller des Quedlinburger Rathauses und danach im Gerichtsgefängnis festgehalten. In dieser Zeit wurde ihre Mutter von der Gestapo verhört, um sie zu einer Aussage zu bewegen, dass der Eigentumswechsel der Firma erst nach den Arisierungsgesetzen (November 1938) zustande kam. Aber ihre Mutter Elsbeth hat gekämpft wie eine Löwin und unterschrieb nicht. Rudolf Schreiber wurde ebenfalls verhört und er hat unterschrieben. Der Anwalt Dr. Rudolf Brecht erwirkte, dass die Unterschrift für nichtig erklärt wurde, da sie unter Druck zustande kam. Hans Sachs überlebte die NS-Zeit in Quedlinburg. Die Kinder von Rudolf Schreiber wollten die Firma für sich und haben Gerdas Vater nicht in die Firma geholt. Sie erzählte, dass gegenüber der Veranda ein großes Wirtschaftsgebäude war, in dem Eva Pauly, die 1939 in die Firma kam und Astern und Levkojen züchtete, ein Labor hatte. Gerda Sachs arbeitete gern mit Frau Pauly. Sie erinnert sich, dass sie den Arm voll Stäben trug, die Frau Pauly für die Selektion der Blumen brauchte.
Gerda Sachs musste die Oberschule verlassen und ging auf eine von den Nazis gegründete Oberschule, extra für Mädchen. Sie besuchte eine Sprachklasse bei der Lehrerin Frau Dr. Bög. 1943 machte sie das Abitur. Mit einem Lächeln erzählte sie, dass sie die Lateinarbeit für fast alle Mitschülerinnen gemacht habe und dass sie sieben Einsen auf dem Zeugnis hatte. Später erfuhr sie, dass ihr das Abitur verwehrt werden sollte. Jedoch hatten viele Mitschülerinnen Unterschriften für sie gesammelt.
Wir erfuhren, dass ihr Vater Hans Sachs klein und sehr sportlich war. Sie sind viel Fahrrad gefahren und waren gern am Siebersteinteich in Ballenstedt. Alle haben früh schwimmen gelernt, außer ihr jüngerer Bruder Uli (geb. 1930), weil an den Teichen stand „für Juden und Hunde verboten“. Uli war der Klügste und Tüchtigste von uns, er hat eine Gärtnerlehre absolviert. Bei einem Klassentreffen am Siebersteinteich ist er 1949 ertrunken.
Ihr Bruder Hugo (1927-2015) hat Mathematik/Physik in Halle studiert, war unter anderem als Gymnasialdirektor tätig und flüchtete 1960 nach Westberlin. Dort war er Mathematiklehrer am Berlin Kolleg.
Pfarrer Hein von der Domgemeinde hat sich sehr um ihre Mutter Elsbeth gekümmert, die regelmäßig in seine Bibelstunde gegangen ist. Auch Gerda wurde immer wieder eingeladen und ging dann hin. Sie bekam das Neue Testament geschenkt. Vor allem die Offenbarung des Johannes hatte es ihr angetan. Sie konnte viel auswendig und während unseres Besuchs bei ihr baute sie einige Passagen der Bibeltexte ein. Sie wollte eigentlich Chemie studieren, weil sie das Periodensystem der Elemente mochte. Aber sie sollte Deutsch studieren und studierte dann erst Philologie und Theologie in Göttingen und Halle. So kam sie von der Bibelstunde zur Theologie und sagte, dass ihr das so vorher bestimmt gewesen ist.
Sie lebte bei ihrer Mutter zu Hause, bis die Villa abgerissen wurde. Den angebauten Saal hatte die Mutter schon vorher verkauft. Es gab einen Beschluss, dass nur abgerissen werden darf, wenn es um die Möglichkeit des Abbaus von Kohle ging. Gegen den Abriss der Villa kämpfte die Mutter und schrieb bis zum Staatsrat nach Berlin. Gerda Sachs ist heute noch erschüttert über den Verlust und dass es ihr nicht rechtzeitig möglich war, den Abriss zu verhindern. Es wurde Tag und Nacht gearbeitet, um noch vor dem Termin das Haus einzureißen. (Die Fläche am Kleers und Weyhegarten wurde in den 1970er Jahren zum Wohnungsbau gebraucht). Die Mutter hatte dann eine Wohnung bei einer Familie Koch, genannt Säcke-Koch und erhielt eine Rente für Verfolgte des NS-Regimes (VDN-Rente). Sie starb 1992.
Nach dem Krieg studierte Gerda noch Deutsch, Geschichte und Russisch. Sie kam dann wieder zurück zur Theologie und wurde als Vikarin nach Lützen geschickt und sollte die Kirchengemeinde in Tollwitz noch nebenbei machen. Mit den Ortschaften ringsherum war es keine kleine Aufgabe. Sie entschloss sich, in den 1950er Jahren nach Tollwitz zu ziehen, war dort über 30 Jahre lang Pastorin und wohnt noch heute dort. Sie lebt mit ihrer Katze in dem Pfarrhaus und erhält Betreuung durch einen ambulanten Pflegedienst.
Ihre Erinnnerungsgabe ist bemerkenswert und ihr Wunsch ist es, in Quedlinburg auf der Grabstelle ihrer Familie zu Füßen ihres Bruders Uli beigesetzt zu werden. Dazu hat sie schon Vorkehrungen getroffen und gab uns mit auf den Weg, dass sie sich über einen Anruf von Herrn Wenzel, Friedhofsbeauftragter der Stadt Quedlinburg a.D. sehr freuen würde. (Das Gespräch hat bereits stattgefunden).
Sie war sehr dankbar über unseren Besuch und wir sind tief beeindruckt und voller Hochachtung weggefahren, mit dem Versprechen, sie wieder zu besuchen.
David Sachs
Firma David Sachs
Gerda Sachs mit ihren Eltern Hans und Elsbeth (Archiv Prof. Dr. Schreiber, Berlin)
Villa Sachs (Archiv Prof. Dr. Schreiber, Berlin)
Rudolf Schreiber
Link Eva Pauly





