Jetzt im Winter lassen sich an verschiedenen Winterlindenstämmen im Stadtgebiet von Quedlinburg große Kolonien von Lindenwanzen beobachten, ein sehr beeindruckendes und relativ neues Phänomen für unsere Region. (Abb.1).
Die Lindenwanze Oxycarenus lavaterae (Fabricius, 1787) ist weniger als 6 mm groß und damit deutlich kleiner als die häufig an Linden lebende Feuerwanze (Pyrrhocoris apterus). Auch in der Färbung unterscheidet sie sich von dieser Art. Vorderkörper, Kopf, Halsschild (Pronotum) und das dreieckige Schildchen (Scutellum), sind schwarz gefärbt. Ihre Oberfläche ist genarbt und mit feinen weißen Härchen versehen. Der Hinterleib unter den Flügeln ist dunkelrot. Die Flügeldecken gehen von rotbraun ins schwärzliche über und enden in silbrig glänzenden Membranen. Die Körperanhänge wie Fühler und Beine sind dunkel bis schwarz, die Augen rötlich. (Abb.2). Die Weibchen, erkenntlich am abgestutzten Hinterleib, sind durchschnittlich 1 mm größer als die am abgerundeten Hinterleib erkennbaren Männchen.
Die Lindenwanze O. lavaterae war ursprünglich nur im westlichen Mittelmeerraum Europas verbreitet. In den 80ziger Jahren begann sie, ihren Lebensraum nach Osten auf den Balkan bis in die Türkei zu erweitern. Im vergangenen Jahrzehnt dehnte sie nun ihr Verbreitungsgebiet nach Norden, über die Alpen, aus und gegenwärtige Fundmeldungen stammen von Hamburg bis Rügen. Ursache dieser Lebensraumerweiterung ist also nicht eine menschenbedingte Verschleppung in neue Gebiete, sondern sehr wahrscheinlich eine natürliche Ausbreitung infolge der Klimaänderung. Da diese Wanze relativ neu für Deutschland ist, sind Informationen über ihre hiesige Lebensweise noch recht lückig.
Bevorzugte Wirtspflanze und Lebensraum der Lindenwanze O. lavaterae ist die Linde, speziell die Winterlinde (Tilia chordata). Hier lebt sie während der Vegetationsperiode mehr unbeachtet im Kronenbereich und saugt an Blättern und jungen Zweigen; im Unterschied zu der an der Stammbasis lebenden Feuerwanze. Weitere Wirtspflanzen von O. lavaterae sind andere Malvengewächse wie Hibiskus, Eibisch oder Strauchpappel, daher wird diese Art zuweilen auch als „Malvenwanze“ bezeichnet. Die Lindenwanze besitzt, wie alle Wanzen, an der Kopfunterseite einen deutlich sichtbaren Rüssel (Abb. 3).
Dieser umgibt und schützt ein feines Stechborstenbündel, das aus 4 Borsten besteht. Während der Rüssel beim Einstechen außerhalb der Pflanze bleibt, bohrt sich die Wanze mit den beiden äußeren Borsten das Pflanzengewebe. Diese als Bohrer dienende Borsten umhüllen zwei inneren Stechborsten, die miteinander verzahnt sind und zwei Röhren bilden, eine etwas größere zur Pflanzensaftaufnahme und eine zur Speichelabgabe.
Auffällige Schäden an ihren Wirtspflanzen werden anscheinen durch das Saugen nicht verursacht und auch in der Fachliteratur wird nichts über Pflanzenschäden berichtet, so dass keine Bekämpfungswürdigkeit besteht! Für Menschen und andere Tiere sind diese Wanzen absolut harmlos, sie stechen nicht und werden daher bestenfalls bei ihrem Massenauftreten als Lästlinge eingestuft.
Die Entwicklung des Insekts beginnt, dass nach der Kopulation die Weibchen nach dem Blattaustrieb ihre Eier an den Blättern der Wirtspflanze ablegen. Die daraus schlüpfenden, ungeflügelten Larven entwickeln sich über 5 Stadien zum Vollinsekt. Die Larven sind einfach an ihrem rotbraunen Hinterleib zu erkennen, der noch nicht durch Flügel verdeckt ist (Abb.4).
Unter unseren Klimabedingungen wird mit zwei Generationen im Jahr gerechnet, deren Entwicklung bis Oktober abgeschlossen sein dürfte.
Eine besondere Eigenart der Lindenwanzen O. lavaterae ist die Überwinterung der erwachsenen Tiere sowie auch der älteren Larven in großen Massenansammlungen an den Stämmen von Lindenbäumen. Dies als „Plaque“ bezeichneten, auffälligen Ansammlungen (Abb. 5) können, wie an verschiedenen Bäumen im Stadtgebiet zu beobachten ist, tausende von Tieren umfassen!
Zu vermuten ist, dass neben der Wahl von für alle Tiere attraktiven geschützten Stammbereichen artspezifische Duftstoffe, Pheromone genannt, das Zusammenfinden der Tiere verursachen oder fördern. Die Überwinterung beginnt bereits im Oktober und kann bis Juni dauern.
Etwas verwunderlich ist, dass bisher Vögel, z. B. Meisen, diese Massenansammlungen nicht als Futterquelle nutzen. Möglicherweise sind sie, wie andere auffällig gefärbte Wanzen, für die Vögel nicht genießbar oder sie stehen als Neuankömmlinge noch nicht auf ihrer Futterliste.
Fotos: Dr. E. Schliephake