Unsere Minister Willingmann und Schulze beabsichtigen, das Waldgesetz des Landes zu ändern, um die Errichtung von Windkraftanlagen in Wäldern auf „abgestorbenen“ oder „toten“ Waldflächen genehmigen zu können. Aber die Aussage, dass die gegenwärtigen traurigen Anblicke in unseren Wäldern bedeuten, sie seien tot oder abgestorben, ist polemisch und falsch. Aus meiner Sicht als Biologin muss ich hier ganz entschieden richtigstellen: Es gibt keinen toten Wald. Bäume können absterben, auch die ganze Baumschicht fast gleichzeitig wie bei den gegenwärtigen Borkenkäfer- und Sturmschäden, jedoch alle anderen Bestandteile des Waldes bleiben erhalten: die Strauch- und Krautschicht, aber als Wichtigstes der Waldboden mit seiner Streuschicht, dem Humus, mit Wurzeln, Pilzmyzel und einem fast unerschöpflichen Vorrat an Samen. Dieses Potenzial versetzt den Waldboden in die Lage, ganz schnell und effektiv wieder Bäume wachsen, wieder einen grünen Wald erstehen zu lassen. Das will ich hier ganz kurz und allgemeinverständlich skizzieren:
Im ersten Jahr bedeckt sich der Boden mit ein- oder mehrjährigen krautigen Pflanzen, die die plötzliche Lichtfülle nutzen und ihn weithin mit ihren Blüten bedecken, zum Beispiel Bunter Hohlzahn, Wald-Greiskraut, Fingerhut und Weidenröschen. Das zweite und dritte Jahr bringen die ersten Gebüsche hervor, wie Himbeeren und Hirschholunder, und in deren Schutz keimen und wachsen die Samen der Bäume. Zunächst sind das Birke und Eberesche, aber auch Ahorn-Arten und Nadelgehölze. In den folgenden Jahren entwickeln sich beispielsweise Eichen und Buchen im Schutz dieses Vorwaldes. Nach fünf Jahren kann man fast überall auf den totgesagten Flächen schon mannshohe Bäume in bunter Vielzahl vorfinden, die gerade in ihrer Wachstumsphase jede Menge Biomasse bilden und dabei CO2 binden.
Diesen Prozess nennt man natürliche Sukzession, und jeder, der mit offenen Augen durch unseren Harz wandert, kann diese Entwicklung von neuem, jungem Wald beobachten, wenn er nur will. Dieser Wald wird anders aussehen, als wir es gewohnt sind, aber die Durchmischung von vielen Baumarten wird ihn deutlich abwechslungsreicher und als Lebensraum für die zahlreichen Waldbewohner geeigneter machen als zuvor.
Das Beste daran ist: Der neue Wald wächst kostenlos und wird mit Sicherheit stabiler und widerstandsfähiger gegenüber Klimaextremen wie Hitze und Trockenheit sein als der, den wir verloren haben: Die Bäume keimen und wachsen an ihren endgültigen Standorten, und nur diejenigen, die damit fertig werden, setzen sich durch und werden groß. Im Gegensatz dazu werden Aufforstungen mit Jungpflanzen aus Baumschulen begründet, die meist mehrfach umgepflanzt wurden und am Ende in ganz anderen Umweltbedingungen landen, als sie sie aus ihren Anzuchtbeeten gewohnt sind.
Lassen wir unserem Wald die Chance, wieder ein natürlicher, grüner, produktiver CO2-Speicher zu werden, indem wir seine gratis zur Verfügung stehende Regenerationsfähigkeit nutzen.
Wenn Windkraftanlagen im Wald gebaut werden, muss unter diesen die Strauchschicht und der Jungwuchs beseitigt werden, und binnen weniger Jahre verliert der Waldboden seine einzigartigen Fähigkeiten und degradiert. So stirbt beispielsweise das überall vorhandene Pilzmyzel ab, das für die meisten Waldbäume essenziell notwendig ist. Jeder, der auf bisherigen Freiflächen neuen Wald anpflanzen will, weiß, wie langwierig und mühsam dieser Prozess ist. Es wäre fatal, unsere Wälder, diesen Schatz der Natur für Windkraftanlagen zu opfern.
Unsere Wälder sind (noch?) Hotspots der Artenvielfalt. Damit wäre es bald vorbei, wenn die Regierungspläne Wirklichkeit werden. Die modernen Rotoren haben Durchmesser von deutlich über 100 m, und alle Lebewesen in ihrem weiteren Umkreis sind zum Tode verurteilt: nicht nur, wenn sie von den Rotoren getroffen werden, sondern auch wegen der Druckunterschiede infolge der Luftverwirbelungen, die ihre inneren Organe zerreißen. Der bereits vorhandene dramatische Schwund von Arten – ich nenne hier nur Vögel und Insekten – würde sich noch einmal vervielfachen.
Es liegt in unserer Verantwortung, unsere eigenen Lebensgrundlagen und die unserer Kinder und Enkel zu erhalten und zu schützen! Oder wollen wir weiter mit Riesenschritten in Richtung eines stummen Frühlings voranschreiten?
(Der Beitrag erschien in gekürzter Form als Leserbrief in der Mitteldeutschen Zeitung (MZ) am 3.2.2024 )